Sonnenkind

Eine der Gemeinschaften von Turr sind die Sonnenkinder:
- eine Art Mönchsgemeinschaft, die Mitglieder kommen aus allen Völkern Turrs, und es werden auch Frauen aufgenommen

- nur wenige abgelegene Klöster am Rande der grossen Klippen

- Glaube:direkte Vereinigung mit der Sonne und ewiges Leben dort, wenn sie als Gläubige über die Klippen springen

- jedes Jahr an dem Tag, an dem die Sonne genau über den Klippen aufgeht, springt der Teil der Gemeinschaft, für den die Zeit reif ist, ins Meer

- Bedingungen: mindestens 10 Jahre im Dienst des Klosters

- mindestens 3 neue Mitglieder geworben

- besonderer Sprung, der sich am einfachsten als Rückwärtssalto unter völliger Körperspannung beschreiben lässt. Nur eines ist seltsam: bevor sie fallen, scheinen sie stets wenige Sekunden in der Luft zu verharren. Kein Wesen weiß, wie ihnen dies möglich ist.



Sonnenkind

Kasinè atmete tief ein und aus. Morgen würde sein großer Tag sein. Morgen würde er springen. Sein junger, muskulöser Körper bewegte sich gleichmäßig im Rhythmus der Worte.

'Heil Sonne, Lichtbringer, Lebensspender!
Heil Sonne, Wärmegeber, Himmelskönigin!
Nimm mich auf zu dir.'

Ein ungeduldiges Klopfen am Fenster unterbrach seine Meditation. Verwirrt und noch immer in der Welt der Gedanken stand er auf und öffnete es leise. Die kühle Luft der Nacht strömte herein und ließ ihn erschaudern.

Eine kleine, schlanke Gestalt kletterte über den Sims.
'Lina-u ....'
'Kasinè!'
Ungeachtet dessen, dass er nichts anhatte und dass er vom allabendlichen Wettlauf noch verschwitzt war, fiel sie ihm um den Hals.
'Du darfst nicht springen, bitte! Du darfst es nicht tun! Tu es nicht ....'
Automatisch streichelte er ihre dichten, schwarzen Haare, die im Schein des Feuers glänzten. Er spürte ihre Tränen auf seiner nackten Haut.
'Du weißt ich muß. Mein ganzes Leben habe ich hier verbracht, habe all meine Ziele auf diesen einen morgigen Tag gerichtet. Drei neue Sonnenanbeter habe ich überzeugt. Zehn Jahre, zehn! von achtzehn in den Dienst dieser Gemeinschaft gestellt. Verlang nicht von mir, morgen das zu fliehen, worauf ich all diese Jahre hingearbeitet habe.'
Lina-u's Stimme zittterte, als sie antwortete. 'Ich weiß das alles. Du brauchst es mir nicht  zu erklären. Und zehn Jahre sind nichts, das weißt du. Du könntest leicht zehnmal so alt werden, genauso wie ich.'

'Und doch muß ich es tun.'

'Dann spring ich mit dir!' Heftig schüttelte sie den Kopf. 'Ich lass dich nicht alleine!'

Kasinè lächelte. 'Alleine? Aber all meine Brüder und Schwestern werden mit mir springen.'

Sie trommelte mit ihren Fäusten gegen seinen Brustkorb. 'Oh, du verstehst nicht!'

Vorsichtig nahm er ihre Hände in die seinen und sah ihr in die Augen. 'Ich verstehe sehr wohl. Komm! Diese eine Nacht bleibt uns noch.'

'Spring nicht, bitte ....'
Er hob sie hoch und küsste sie auf die Lippen. 'Du weißt, ich kann nicht anders. Lass uns noch diese eine Nacht genießen, es ist die letzte, die wir haben.'
Schwer legte sich ihr Kopf auf seine Brust, als sie flüsterte: 'Ich liebe dich, Kasinè von den Sonnenkindern ....'.
'Und ich liebe dich, Lina-u, meine Schönheit. Und doch muß ich es tun.'
'Warum nur, warum?'
Er antwortete nicht.
Lina-u wusste, dass das letzte Wort gesprochen war und ließ ihn gewähren, als er sie langsam zu seinem Lager trug.

Der Morgen kam, und als sie erwachte, war er verschwunden. Von draußen drang das Gebrüll der rituellen Trommeln herein. Vom Fenster aus sah sie, wie sich die Prozession der Sonnenkinder zum 'hohen Turm', der letzten Klippe am Ufer des Meeres bewegte.

'NEIN!' Ihr Schrei verhallte ungehört unter den Stimmen der Möwen und nur der Stallknecht, der gerade dabei war, den Mist hinauszubringen, wunderte sich, was wohl geschehen sei, ehe er mit seiner Arbeit fortfuhr.

Von weitem sah sie, wie einer der Mönche nach dem anderen sprang, den Körper gespannt, das Gesicht zur Sonne gestreckt. Nachdem der letzte gefallen war, sank sie zitternd zu Boden.



Sofia hat zwei verschiedene Schlussversionen geschrieben. Sie wußte für sich nicht, welche der beiden Texte 'richtig' war und fand das seltsam.



Version 1:

Elf Jahre später sprang eine noch junge Frau zusammen mit acht weiteren der Gemeinschaft von den Klippen. Niemand wusste, wer sie war, sie hatte stets verweigert zu sprechen, aber es wurde geredet, sie käme nicht aus Überzeugung, sondern aus Liebe. Da sie aber der Gemeinschaft gut diente und viel und hart arbeitete, ließ man sie gewähren. So sprang sie wie ein jeder, um in das Licht der Sonne einzugehen.

In dem Moment, als sie starb, soll irgendwo in einem der Menschendörfer ein kleiner Junge von elf Jahren aus dem Schlaf aufgeschreckt sein, so dass er lange nicht wieder zu beruhigen war.



Version 2:

Während sie sich aber in ihrem Schmerz krümmte, kam plötzlich eine vertraute Stimme von hinten.

'Sind sie schon alle hinüber?'
'Kasinè?' Sie setzte sich auf. 'Lina-u!'
Er schloss sie in seine Arme und diesmal war er es, der weinte.