Strahlentage

Über den Beginn Turrs, wie ihn sich viele Völker erzählen und wie er für wahr genommen wird ...
Ein kleiner, einsamer Lichtstrahl sauste durch das Dunkel, das zu Beginn der Zeit herrschte. Eigentlich wußte er nicht, woher er kam und wohin er ging, aber er freute sich seines Daseins, sprang hierhin und dorthin und ließ durch sein Erscheinen die Schwärze stets für einen kleinen Augenblick verschwinden. Als er nun eine Weile so durch den Raum geflogen war, stieß er plötzlich auf etwas, das seltsam war: Die Welt.

Er wurde neugierig, und da er mit seinem kleinen Licht auch nur einen kleinen Teil dieses neuen Stoffes sehen konnte, rief er alle seine Freunde herbei, die ebenso aus dem Nichts kamen wie er. Gemeinsam schwebten und flogen sie nun über die Erde und Meere und erkundeten die junge Welt.

Da sie sich aber nicht zu einen vermochten, erhellte das Licht stets nur spärlich und für kurze Zeit die Lande. Und so bat der erste Lichtstrahl die anderen zu sich und sie flochten sich ineinander zu einem kunstvollen Gebilde, das später die Sonne geheißen wurde.

Sie schwebten dicht über der Erde und bestaunten die Welt, die noch öd und leer war am Anfang der Zeit.

Und wieder war es der erste Lichtstrahl, der merkte, dass all ihre vereinte Kraft den Boden verglühte und das gerade entdeckte Wunder zerstörte. So kam es, dass sich die Gemeinschaft der Strahlen in den Himmel erhob, so weit, dass sie gerade noch die Erde betrachten konnten.

Aber da sie sich nicht mit nur einem Teil des Wunders zufrieden geben wollten, begannen sie ihre ewige Reise durch die Lande, so dass sich Dunkelheit und Licht abwechseln.

Nun begnügten sich einige Lichtstrahlen auch damit noch nicht. Sie wünschten die neuen Gestade genau zu erkunden und zu erforschen und der erste Lichtstrahl hatte Mühe, die Gemeinschaft beisammen zu halten. Also kamen sie zu dem Entschluss, dass stets ein Teil der Strahlen zur Erde hinabreisen dürfe und am Tag darauf zu den anderen zurückkehren sollte.

Eine Zeit lang war alles gut, und die ersten Nächte sind berühmt für ihr mildes Licht und das leise Lachen der Leuchtenden.

Aber es kam die Stunde, als einer der Strahlen, die sich gerade am Boden befanden, zu meutern begann.

"Wer ist eigentlich dieser erste Lichtstrahl, dass er uns befiehlt, was wir zu tun und zu lassen haben? Ist er nicht genauso gut und schlecht wie wir alle? Ich möchte noch nicht in die Gemeinschaft zurückkehren!"

Viele stimmten dem Rebellen zu, und so wurde beschlossen, dass sie bleiben würden, auch wenn das Licht zurückkehrte.

Nun hatte aber gerade in jenen Tagen das erste Gras angefangen, unter dem Einfluss der neuen Sonne zu sprießen, und sie bestaunten das frische Grün voller Freude, da sie so etwas noch nie gesehen hatten. Die Abtrünningen waren derart von jenem Wunder erfasst, dass sie gar nicht mehr von seiner Seite weichen wollten, bis es zu verwelken und zu verdorren begann. Der Tod hielt Einzug in der Welt.

Als sie erkannten, was sie mit ihrer Hitze getan hatten, wurden sie unglücklich und ihr Licht verblasste vor Trauer.

"Hier können wir nicht bleiben", jammerten sie, aber die Gemeinschaft der Sonne, die wohl gemerkt hatte, was da vor sich ging, weigerte sich, die Frevler erneut aufzunehmen.

Da sammelten sie sich und wurden zu einem neuen Gestirn, das immer noch blass ist vor Trauer und von den Völkern in späteren Tagen als Mond bezeichnet wurde.

Aber unter den Abtrünnigen konnte keine solche Einigung erzielt werden wie unter den allerersten Lichtern und so konnten sie sich nicht auf eine Form einigen. Deshalb gibt es die Mondphasen und deshalb gibt es die Sterne, die aus jenen Strahlen entstanden, die sich mit nichts zufrieden geben wollten und diese Welt dennoch nicht mehr verlassen konnten. Die Streitsüchtigsten unter ihnen, die mit nichts und niemandem etwas zu tun haben wollten, stehen ganz alleine. Andere, freundlicher von Gesinnung, stellten sich so dicht zusammen, dass sie einander verstehen konnten, wenn sie sprachen. Die Völker haben sie später gedeutet und ihnen Namen gegeben, aber sie hier alle zu nennen würde zu weit führen.

Und so, nachdem nun alle ihren Platz gefunden hatten, begann der Rhythmus der Zeit, denn auch die Gemeinschaft der Bleichen fing an, über den Himmel zu wandern so wie das Geflecht der Sonne. Doch sie halten sich stets voneinander fern, da der Zorn der Hellen über die Dummheit der Blassen, die den Tod herbeigelockt hatten, noch immer nicht verschwunden ist, und nur selten sieht man sie gemeinsam in der Dämmerung auftauchen.

Seit jenen Tagen hat auch kein Lichtstrahl es mehr gewagt, die Welt zu besuchen. Sie sehen nur noch von weitem zu, wie das Leben wächst und gedeiht, wie sich die Völker bekriegen und vermehren. Einzig und allein die Sterne, die ihren Platz ja nicht verlassen und nur des Nachts im schwachen Licht des Mondes zu sehen sind, fallen noch manchmal herab, um die Wesen zu besuchen und ihnen Glück zu bringen, denn sie versuchen immer noch, die Schuld für den ersten Tod auf dieser Welt zu büßen.


Sofia, 06.06.2003