Froschkönig

Vorsichtig öffnete sie die Augen.
Wo befand sie sich? Es schien ihr, als sei sie eben in diesem Moment geboren worden, mit einem Gedächtnis, das noch frisch und neu war und einfach darauf wartete beschrieben zu werden.

Der Duft von fremdartigen Blüten stieg ihr in die Nase und als sie sich umsah, wurde sie gewahr, dass sie sich in einem Garten befand. Es war ein kleiner Garten, mit Raum für kaum mehr als eine alte Bank und sie selbst, der Rest wurde von einer Menge exotischer Pflanzen und Steine eingenommen. Aber irgendwo in diesem ganzen Gestrüpp schien sich ein Bach zu befinden, denn sie hörte ein leises Plätschern und Rauschen.

Neugierig stand sie auf und tappte mit bloßen Füßen durch feuchtes Gras und nasse Erde. Ihr weißes Kleid schleifte hinter ihr her, es wurde bald grau und die Pflanzen rissen kleine Löcher in den feinen Stoff.

Da war der Bach. Sein weniges Wasser ergoss sich eine schmale, dunkle Treppe hinunter, deren Ende sie nicht erkennen konnte. Vorsichtig folgte sie ihr ins Dunkel hinab, fort von dem blühenden Licht hinter ihr. Eine zarte Stimme sang dort in der Tiefe, und während sie die glitschigen Steinstufen hinunterstieg, lauschte sie fasziniert.

"Im Dunkeln hocke ich
ganz und gar allein
hab niemand, hab nur mich
und meine Stimme fein.

Reime schrecklich
sehe nicht
und doch bin ich
ein froher Wicht
der sein Schicksal flicht
aus tausend Fäden wunderlich."

Sie hatte die letzte Stufe erreicht und stand nun in völliger Schwärze. Ihr weißes Kleid leuchtete einsam vor sich hin. Die plötzliche Stille verwirrte sie. Warum schwieg dieses Wesen, dessen Stimme sie so verzaubert hatte?

"Schöne, was tust du hier?"

Da war es wieder, dicht bei ihren Füßen, im knapp knöchelhohen Wasser.

"Wo bist du?"

Langsam formte sie die Worte, die sie zum ersten Mal sprach.

"Ich bin hier, unter dir. Ein einsamer Kerl bin ich und so eine wie dich hab ich hier in meinem Reich noch nie gesehen."

Langsam bückte sie sich und erkannte schließlich den Umriss einer kleinen, krötenartigen Gestalt.

"Wer bist du?" Nun fiel ihr das Sprechen schon leichter.

"Ein einsamer Froschkönig, doch sag, wer bist du und was tust du hier?"

"Ich weiß es nicht ...."

"Na sowas! Eine Frau in weißem Kleid steigt in mein einsames Reich herab und weiß nicht warum! Sag, willst du etwa geküsst werden?"

"Küssen? Ich weiß nicht, was das ist, aber warum nicht?"


"Beug dich herab, und ich zeig dir wie es geht."

"Tut es weh?"


"Nein, ich denke nicht. Ich hab es zwar noch nie getan, doch mein Vater hat mir erzählt, dass das Lebensziel jedes Froschkönigs ist, von einer schönen Frau geküsst zu werden. Ihr seid schön, eine Frau und also folglich in der Lage mich zu küssen. Oder?"


"Ja." Sie lächelte. Eine amüsante Gestalt, dieser Froschkönig.

Vorsichtig kniete sie sich hin, so dass er ihr einen dicken Schmatz auf den Mund drücken konnte.

Und, sieh da! Plötzlich saßen sie zu zweit da. Zwei Frösche, ein dicker, behäbiger und eine schmale, grazile Krötendame.

Misstrauisch beäugte er sie. Sie quakte leise und sah ihn an. "Stimmt etwas nicht?"

"Nun, eigentlich sollte ich mich in einen Menschen verwandeln und nicht umgekehrt. Sagt, Ihr seid doch eine Prinzessin, oder?"

"Nicht dass ich mich entsinnen könnte."

"Oh weh, jetzt sind wir zwei Froschkönige, die auf Erlösung warten! Warum hast du es nicht früher gesagt?"

"Quak."

Wollt Ihr wissen, was aus den beiden wurde? Nach diesem ersten und einzigen Streit führten sie ein glückliches, wenn auch bescheidenes Leben im Schatten des Gartens und hatten zahlreiche Kinder, jeder ein Froschkönig, der auch auf Erlösung wartete.